Mittwoch, 10. Oktober 2007

Knallpoeten.

Es ist dunkel. Es ist kühl. Ich laufe halb umher irrend durch die Stadt, auf der Suche nach dem richtigen Weg zum Bahnhof Friedrichstraße. Irgendwie muss ich leicht die Orientierung verloren haben. Gartenstraße. Das ist niemals der kürzeste Weg. Die Uhr zeigt schon Viertel nach Neun. Die verabredete Zeit war um neun Uhr. Ich kommte hoffnungslos zu spät. Mein schlechtes Gewissen meldet sich. Ich schiebe es beiseite, erinnere mich, dass meine Verabredung gern auf dem letzten Drücker erscheint, laufe weiter, renne fast, schaue, und entdecke endlich einen markanten, bekannten Punkt. Die Synagoge in der Oranienburger Straße. Ich bin total vom Weg abgekommen. Aber jetzt weiß ich endlich, wo ich mich genau befinde. Nun ist es auch nicht mehr so weit. Ich erreiche die Friedrichstraße und folge ihr bis zum Bahnhof.

Vor dem Zeitungsladen ist die gesuchte Person nicht zu sehen. Bin ich doch zu spät? Ja, ich bin. Es ist fast halb, dennoch bleibt ein Hoffnungsschimmer. Ich laufe alle Bücherreihen und Regale ab, in der Annahme, sie beim Schmökern in einem Buch oder einer Zeitschrift zu finden. Ergebnislos. Sie ist nicht da. Nicht mehr da. Ich stehe vor dem Laden, verweile noch einen Augenblick, ein paar Minuten noch und durchforste nebenbei mit einem Auge und halbem Interesse die reduzierten Exemplare auf dem Grabbeltisch.
Dann bin ich mir sicher, dass sie ohne mich gegangen ist. Schade um die Freikarte, die sie mir schenken wollte, denke ich. Vielleicht hat sie ja einen anderen am Eingang gefunden, einen Wildfremden angesprochen und ihn mit in die Vorstellung genommen. Der oder die Glückliche. Wäre die verdammte Parkplatzsuche nicht gewesen [bekanntlich habe ich im Moment keinen Fahrschein und wollte diesen auch nicht für Hin- und Rückfahrt für 4,20 Euro erwerben], die fast eine halbe Stunde dauerte und mich schließlich bis zum Nordbahnhof führte, bevor ich fündig wurde. Zwei S-Bahnstationen im abseits, bloß um ebenfalls keine Parkgebühr, die dem entbehrten Fahrschein nahezu gleich gekommen wäre, entrichten zu müssen.

Ich blicke mich ein letztes Mal um, bevor ich mich notgedrungen zu einem Nachtspaziergang durch Mitte entschließe, als ein merkwürdig bekanntes Gesicht in mein Sehfeld rückt. Der ältere Herr steuert genau auf den Zeitungsladen zu, vor dessen Eingang ich stehe. Er sieht mir direkt in die Augen. Ich glaube, er hat gemerkt, dass ich ihn irgendwoher kenne. Ich wende mich ab, schaue mich weiter suchend um, behalte ihn im Augenwinkel. Nun steht er vor dem Grabbeltisch mit einer prall gefüllten Netto-Tüte in der Hand. Er trägt einen langen grauen Mantel, eine Brille und lichtes Haar. Sein Blick war sympathisch. Doch woher kommt er mir bekannt vor. Film? Fernsehen?

Mein Name wird laut gerufen. Ich drehe mich unerwartet herum und meine Verarbredung steht vor mir. Etwas außer Atem, mit einem entschuldigenden Blick wegen der argen Verspätung von einer halben Stunde. Erleichterung. Ein Stein purzelt mir vom Herzen. Wir sind beide fast gleich zu spät, die Freikarte ist da, der Abend gerettet.
Und da dämmert es mir. Tatort. Na klar. Der ältere Herr ist ein Kommissar. Ich bin nicht ganz sicher, aber ich glaube, es ist Kommissar Schmücke oder dessen Partner. Und nun geht es endlich in den Admiralspalast.

Da die Vorstellung schon um 20 Uhr begonnen haben soll [und um 17 Uhr die Vorrunden?], habe ich Angst, dass wir beide nun nur noch den letzten Beifall des Siegers erleben werden. Am Einlass verzögert es sich einen Moment. Wir müssen auf die Dame mit der Gästeliste warten. Als sie erscheint, sagt meine Begleiterin nur, dass sie bei der TAZ zwei Freikarten gewonnen habe, und ohne Überprüfung eines Namens oder Vorlegen eines Ausweises werden wir eingelassen.
Ein Blick von der unteren Etage in den Saal zeigt, dass dieser brechenvoll ist. Jubelnde Schreie vom Publikum für den Vortragenden auf der Bühne. Nur auf der Empore lassen sich vereinzelt freie Plätze erspähen. Wir versuchen unser Glück in der zweiten Etage. Doch die Tür mit einer Nummer ist verschlossen. Meine Begleiterin steuert daraufhin auf einen mit Loge beschrifteten Eingang zu. Er öffnet sich und wir finden uns hinter einem schwarzen Vorhang auf einem Einzelbalkon seitlich über der Bühne wieder. Die ganze Kabine nur für uns. Was solls, besser als nichts und langes Suchen. Wir sind die einzigen, die in solch einer Kabine sitzen. Vermutlich ist sie sonst auch abgeschlossen.
Zwei Klappstühle und ein dreckiger Tisch bilden das Möbiliar. Türme aus Bierdeckeln und dicker Staub zieren die Tischoberfläche. Im Dunkeln wirkt der kleine Raum wie eine Abstellkammer. Eine Baustelle. Der Blick auf die Bühne geht links steil nach unten. Man muss sich dazu halb über die Ballustrade lehnen. Etwas unbequem. Aber es geht. Das Publikum erstreckt sich nach rechts. Wir sehen. Und werden gesehen. Und wir hören.

Dank der Freikarte komme ich in den Genuss, zum ersten Mal einen großen Poetry-Slam-Wettbewerb mitzuerleben. Der Admiralspalast fast knapp 2000 Leute. Und das Haus ist so gut wie ausverkauft. Die Stimmung ist phänomenal. Das Publikum tobt. Es wirkt so unecht. Übertrieben. Jeder der Slammer, also diejenigen, die am Wettbewerb teilnehmen und maximal fünfmenütige Texte vortragen, hat seine eigene Fangemeinde angekarrt.
11 Teilnehmer haben es in die Endrunde geschafft, darunter nur eine Frau. Wir sind gerade rechtzeitig zum großen Finale. Die Bewertung erfolgt einerseits durch den Applaus des Publikums (50%) und die Wertung von 12 Juroren, die zufällig im Publikum ausgewählt wurden. Nach jedem Beitrag singt Sebastian Krämer, der die Veranstaltung moderiert, "Jury Wertung bitte jetzt!", bevor die Wertungen eingesammelt werden. Meist trifft er die Töne nicht so ganz. Es klingt schräg zusammen mit der Begleitung durch das Piano. Das gehört scheinbar dazu. Das ist Programm. Denn auch die Texte der Teilnehmer sind teilweise arg schräg. Die meisten versuchen, belustigend zu sein. Eine kleine Comedy-Show in fünf Minuten. Es gibt gute Texte und normale Texte. Sie sind eher langweilig. Die normalen. Manche setzen auf den Inhalt, den Witz. Andere auf das Zusammenspiel von Wort und Stimme. Wenige versuchen sogar mit schauspielerischem Talent ihrer Aussage Kraft zu verleihen. Aber allesamt verdienen sie den Respekt, vor so vielen Leuten etwas vorzutragen.
Dennoch gibt es einen leicht bitteren Beigeschmack. Das gesamte Spektakel wirkt wie eine Abiturveranstaltung, inszeniert, nicht wie ein Wettbewerb. Im Publikum sitzen Eltern, Freunde, Verwandte und feuern ihren Slammer lautstark an. Sie jubeln. Sie schreien. Sie stampfen mit den Füßen auf den Boden. Egal was komme. Das Publikum feiert sich selbst und ihre kleinen Helden. Die Helden da unten auf der Bühne im Rampenlicht. Und ich zweifle einen Moment, frage mich, wonach hier überhaupt bewertet wird. Ob es um den literischen Wert der Texte geht oder nur um Show und Fans. Das finale Stechen der besten 3 aus der Endrunde enttäuscht. Es gewinnt genau derselbe, der den Preis auch schon im letzten Jahr gewann. Dabei waren allerhand Texte dabei, die seine um Längen übertrafen. Er hatte den Gewinner-Bonus vom letzten Jahr und zahlreiche Verehrer auf den Sitzen. Aber ich hatte meinen Spaß. Spaß für lau. Und habe eine Meinung zum Thema gefunden: jeder, wirklich jeder, der etwas schreiben und sich gut darstellen kann, hat eine Chance, beim Poetry-Slam ein kleiner Star zu werden. [Damit möchte ich auch einer ganz besonderen Dame Mut machen ;-) ... und Damen gibt es bisher wohl eher wenige in diesem Metier, also, das sollte sich ändern!]

Mehr Infos zum Poetry-Slam findet man unter www.poetry-slam-portal.de.

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Irrlichter kommentieren

krass. junge. glückwunsch.
krass. junge. glückwunsch.
meliterature - 24. Sep, 19:45
Na klar, immer alles...
Na klar, immer alles meins. ;-) Ich schau mal bei dir...
pinolino - 14. Sep, 14:34
deins? hmm. lange nicht...
deins? hmm. lange nicht mehr mit gedichten beschäftigt....
meliterature - 14. Sep, 08:47

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An meine Liebe
Buch: "An meine Liebe"


Gedicht: "Vogel von der Trauerweide"


Kurzgeschichte: "Jugendliebe"

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