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Mittwoch, 23. September 2009
Samstag, 3. November 2007
Wanderungen.
Wolfgang Büscher: Berlin-Moskau
Diejenigen, die mich schon eine Weile kennen, wissen genau, dass ich eine gewisse Zuneigung für Russland, insbesondere Moskau, empfinde. Und so bekam ich vor einiger Zeit von einer guten Freundin das Buch "Berlin-Moskau" geschenkt. Es ist in der Spiegeledition als Sonderausgabe erschienen und ist von vielen Seiten stets gelobt worden.
Ich las das Buch, nachdem ich aus Moskau zurückgekehrt war, und war besonders begierig darauf, wie es ist, wenn man die Strecke von Berlin nach Moskau zu Fuß zurücklegt und welche sonderbaren Begegnungen mit Menschen dabei erleben kann. Der Autor Büscher hat sich in dieses Abenteuer gestürzt, nur mit einem Rucksack und etwas Geld in der Hosentasche. Leider beginnt für mich das Buch etwas zäh, da bei seinen Wanderungen durch die Länder Deutschland und Polen fast immer nur der Krieg im Vordergrund steht. Der Autor läuft den Weg, den auch die Gefangenen und Verschleppten im Weltkrieg gegangen sind. Es tauchen für meinen Geschmack zuviele historische Fakten und Fragen auf, die die Stimmung der Wanderung nicht so gut einfangen können. Es wirkt so, als wäre nicht die Wanderung und die Begegnung mit Menschen die Hauptsache, sondern die Verarbeitung der Erlebnisse der deutschen Geschichte.
Je näher aber Büscher seinem Ziel Moskau kommt, und bald durch Weißrussland und die russische Förderation wandert, desto interessanter werden die kleinen Geschichten von der Straße und den dort lebenden Menschen. Aber der Hälfte des Buches kann man endlich den Geist des Wanderers fühlen, man wirkt wie beflügelt und schafft es dann im Fluge bis zur letzten Seite. Moskau.
Die Entfernung der Reise betrug etwa 2000 km. Berlin-Moskau. Fast vollständig zu Fuß, nur selten mit einem Hilfsmittel, wie Auto oder Zug, zurückgelegt. Und als hätte Büscher noch nicht genug von der Wanderung, endet er mit dem Satz: "Was machen wir jetzt?". Wer könnte ihn nicht verstehen?
Andreas Altmann: 34 Tage, 33 Nächte
Nachdem ich "Berlin-Moskau" gelesen hatte, war ich auf den Geschmack gekommen und wollte mehr davon verzehren. Wandern. Wandern. Erleben. Und da erinnerte ich mich, dass ich unlängst ein anderes Buch erstanden hatte, das auch eine solche Wanderung beschrieb. Nur in diesem von Paris nach Berlin.
Altmann ließ sich von seinem Verleger dazu bringen, dass er die Reise vollständig ohne Geld meistern müsse. Aber war es ihm erlaubt, sich, auf welche Weise auch immer, etwas zu verdienen oder auch zu erbetteln. Im Laufe der Reise sammelt Altmann seine Erfahrungen, die ihm zu bedeuten geben, was es heißt, ohne Geld auszukommen. Auf die Hilfe anderer Menschen angewiesen zu sein, die einem oft untersagt wird. Allein schon wegen des äußeren Erscheinungsbildes. Ganz besonders in Erinnerung geblieben ist mit seine Schilderung einer Begegnung in Deutschland. Altmann landet irgendwo in einem kleinen Dort, es regnet aus Eimern, er ist völlig durchnäßt. Auf der zweifelhaften Suche nach einem trockenen Schlafplatz landet er in einer Scheune, in die er sich hinein geschlichen hat. Doch dann wird er dort von jungen Frau, einer Studentin entdeckt. Doch anstatt ihn schimpfend fortzujagen, bietet sie ihm so viel Gegenliebe, dass einem der Atem stockt. Sie versorgt ihn vor Ort in der Scheune mit Essen aus dem Haus ihrer Eltern. Zu später Stunde kommt sie dann mit einem Auto zurück, bittet ihn einzustiegen und fährt zu ihrer eigenen kleinen Wohnung. Er darf in ihrer Wanne baden und in ihrem Bett schlafen. Es klingt tatsächlich wie ein Märchen. Und dann taucht auch noch der Freund von ihr, ich glaube sie hieß Anne, dann taucht also noch der Freund von Anne auf und hat größtes Verständnis, dass dieser geschundene Fremde in dem Bett seiner Freundin schläft.
Sprachlich ist Altmann nicht ganz so gewandt wie Büscher. Oft werden die Begebenheiten sehr skizzenhaft gezeichnet und die Formulierungen wiederholen sich stark. Knappe Sätze folgen einander wie in einem Notizbuch. Und manchmal, mit Verlaub, wirkt die Schreibweise gar arrogant. Aber trotzdem war es eine gute Geschichte, mit einem leider ziemlich mauen Ende. Denn das Erreichen des hochgelobten, gepriesenen Berlins, der erhoffte Stolz über die vollbrachte Leistung geht in der Aufzeichnung eines Interviews unter. Immerhin, die Bilanz ist beachtlich: "Nach 1863918 Schritten, nach siebzehn Blasen, nach 217 Pumps, nach 3647 verlorenen Gramm Körperfleisch, nach 34 Tagen und 33 Nächten... bin ich am Ziel."
Michael Holzach: Deutschland umsonst
Nach diesen beiden Geschichte wollte ich alles wissen und begab mich auf die Suche nach Wanderliteratur. Schnell wurde ich fündig, gibt es doch so einige. Nur in Europa nicht allzu viele. So gab es eine Wanderung von München nach Paris, deren Buchauflage jedoch nahezu ausverkauft war und für rund 100 Euro hätte erstanden werden können. Zuviel für meinen Geldbeutel. Aber dann stieß ich auf Michael Holzach und "Deutschland umsonst".
Holzach wanderte in den 80er Jahren von Hamburg nach München. Zu Fuß und ohne Geld durch ein Wohlstandsland. Zu Zeiten des geteilten Deutschland. Doch er macht seine Reise nicht allein, sondern mit einem Hund namens Feldmann, den er aus einem Tierheim holt. Die Wanderung mit Holzach ist so plastisch und aufregend geschrieben, dass sie von diesen drei Geschichten hier für mich ohne Frage die herausragendste ist. Der Autor besucht Stätten und Städte, die sein Leben geprägt haben, von der Kindheit, Jugend, Armee bis zum damaligen heute. Stets begleitet von seinem treuen Gefährten Feldmann. Durch lustige und bizarre Situationen. Und zum Ende schließt sich der Kreis. Holzach wandert von München, dort wo sein Mutter lebt, zurück, weil er kein Geld mehr für den Fahrschein nach Hamburg hat.
Recherchen über den Autor ergaben, dass Holzach bei dem Versuch, seinen Hund Feldmann aus einem Fluss zu retten, stirbt. Der Hund überlebt. Holzach ertrinkt, weil er nicht schwimmen konnte.
Freitag, 26. Oktober 2007
Lesekreis.
Ich bin mit der S-Bahn unterwegs, um zu unserem kleinen Lesekreistreffen zu fahren. Lesekreis mag jetzt etwas überzogen klingen, dahinter verbirgt sich nur ein kleiner Kreis von Literaturbegeisterten. Momentan sind wir sechs Personen an der Zahl. Eine angenehme Größe. Wir treffen uns einmal im Monat, meist in unterschiedlichen Kneipen oder Restaurants, diskutieren über das aktuelle Buch und bestimmen dann für das nächste Mal ein neues.
Dieses Mal findet das Treffen aber bei jemandem zu Hause statt. Ein weiter Weg für mich, quer durch die Stadt, von Marzahn bis nach Steglitz. Ich habe mehr als eine Stunde eingeplant und bin überrascht, dass ich mit Erreichen des S-Bahnhofs Friedrichstraße noch viel zu viel Zeit habe. Wie ich es mir in solchem Fall angewöhnt habe, schlendere ich kurzweilig zum Buch- und Zeitungsladen. Vor dem Geschäft stehen wie immer die Tische, auf denen man einige reduzierte Exemplare finden kann. Da ich erst vor kurzem hier war, erkenne ich schnell, dass es nichts zu holen gibt. Nur ein flüchtiger Blick auf die Buchrücken. Und dann blitzt doch etwas auf. Ein bekannter Name. Eine neuerliche Entdeckung. Dostojewski.
Das Buch trägt einen weinroten Umschlag, auf der Vorderseite ein nicht entzifferbares Gekritzel in goldener Schrift. Auf dem Rücken der Titel "Aufzeichnungen aus einem Totenhaus". Preis 3,50 EUR. Ein dickes Buch. Über 800 Seiten. Ich hadere einen Moment, kann mich nicht für oder wider entscheiden. Der Titel klingt mir ungreifbar, zu langweilig, zu unlebendig. Beim Durchblättern entdecke ich aber, dass nicht nur diese Aufzeichnungen, sondern noch drei weitere Erzählungen oder Kurzromane enthalten sind. Und neugierige Blicke eines hochgezogenen Mannes lugen über meine Schulter auf den Buchtisch. Ich bilde mir ein, exakt auf jene Stelle, an der soeben noch mein Dostojewski stand.
Mit dem weinroten Buch unterm Arm sitze ich nun in der S1 und setze die Fahrt nach Steglitz fort. Ich besitze keine Tüte, auch keinen Rucksack, in den ich es hätte verstauen können, und meine Jackentaschen sind für das dicke Buch zu klein. So halte ich es in meinen Händen, mal in der linken, mal in beiden, lege es auf den Schoß, versuche zu widerstehen, sofort mit dem Lesen zu beginnen. Kann es aber letztlich doch nicht unterlassen, und beginne aus Interesse mit dem enthaltenen Lebenslauf Dostojewskis am Ende des Buches. Zwischendurch blicke ich immer wieder auf, sehe mich um, ob mich jemand beobachtet, gerade so, als hielte ich etwas Verbotenes in der Hand. Daumen und Zeigefinger liegen unter dem Rücken, verdecken den Titel. Beim Aussteigen schließe ich das Buch, fahre mit den Fingern über den Umschlag meines kleinen Schatzes, stecke es mir unter den Arm, und bin stolz, diesen überraschenden Fund gemacht zu haben.
Ray Bradbury: Fahrenheit 451
Zum Treffen gibt es selbstgemachte vegetarische Pizza und rote Grütze mit Sahne und Eis. Beides äußerst vortrefflich und dem Gaumen schmeichelnd, bevor wir uns den literarischen Freuden zuwenden.
Aber ich muss ehrlich zugeben, dass unser letztes ausgewähltes Werk von Ray Bradbury mit "Fahrenheit 451" nicht gerade ein Leckerbissen war. Zweien gefiel das Buch recht gut bis zuweilen hervorragend, aber den anderen Vieren, mich eingeschlossen, eher mäßig bis schlecht. Und in diesem Fall kann es auch nicht an einer schlechten deutschen Übersetzung gelegen haben, da einige von uns den Roman im Original gelesen hatten.
Für mich beginnt das Werk ziemlich holprig mit seitenweise aneinander geklatschten Metaphern und herbeigezogenen Vergleichen, als wollte der Autor zeigen, was er bildlich auf dem Kerbholz hätte. In meinen Augen jedoch völlig überladen, so dass ich irgendwann die Nase voll hatte von den nicht enden wollenden Aufzählungen mit x aneinander gereihten Metaphern zu ein und derselben Bebilderung. [etwa der Form: Die Nacht war dunkel, wie die Höhle des Löwen ohne Licht, wie die Sonne ohne Feuer, wie das Ende eines ewig währenden Abschieds, wie... wie... wie...]
Die Geschichte an sich hätte ganz interessant werden können, ist aber oft sehr bruchstückhaft, Handelsstränge enden im Nichts, werden nicht weiter ausgeführt. Dabei ist die Idee ganz interessant. Eine Zukunftswelt, in der jeglicher Besitz und Konsum von Büchern verboten ist, in der die Feuerwehr nicht mehr die Aufgabe hat, Brände zu löschen, sondern ganz im Gegenteil, Brände zu legen, um gefundene Bücher samt Haus und Habe des Besitzers zu verbrennen.
Auf jeden Fall muss man zugestehen, dass die geschilderte Zukunftsvision aus den 50er Jahren heute im Punkt der Medien und riesigen TV-Wände erschreckend nahe ist. Jedes Haus ist bestenfalls mit einem Raum, der komplett aus vier Medienwänden besteht, ausgestattet. Auf den Wänden flimmern unzählige Programme, genannt die "Familie", selbstverständlich interaktiv, auf jeden Besitzer persönlich zugeschnitten. Die Tätigkeit der in solchen Häusern lebenden Menschen scheint dann nur darin zu bestehen, in diesem Raum auszuharren, und über die Wände, völlig sozial abgeschottet, mit dem Rest der Welt, oder dem davon übrigen, zu kommunizieren. Mit dem offenbaren Ergebnis der allmählichen Verdummung.
Zusammengefasst könnte dieses Buch für Fans der Science-Fiction-Literatur durchaus lohnenswert sein. Für mich persönlich war es einfach zu platt, zu holprig, zu unrealistisch.
Zum Ende des Lesekreistreffens legen wir die neue Lektüre fest. Ich bringe meinen Vorschlag von Dostojeswskis "Weiße Nächte" ein, der sogar einspruchsfrei angenommen wird. Zuvor lesen wir aber noch "Das fliehende Pferd", weil wir gerade den Film dazu im Kino gesehen hatten.
Auf dem Rückweg fahren wir zu viert gemeinsam mit der U-Bahn und dann weiter auf dem Ring nach Ostkreuz. Kaum nehme ich in der U-Bahn Platz, steht jemand aus dem Nebenabteil auf und kommt auf mich zu. Ich sehe das Gesicht, weiß sofort, dass ich ihn kenne, aber erst nach einigen Augenblicken kann ich es zuordnen. Ein Mitreisender der Moskaufahrt vom vergangenen März. Er erzählt, dass er gerade von der Uni kommt. Und dass es ihn nächstes Jahr im Sommer wieder nach Osten zieht. Dann in die Ukraine als Aufsichtsperson einer Jugendreisegruppe. In diesem Moment muss ich leider die Bahn mit zwei anderen aus dem Lesekreis verlassen und auf die Ringbahn umsteigen.
Ab Ostkreuz lege ich die letzten vier Stationen allein zurück. Ich eile durch den Fußgängertunnel in Springpfuhl. Ein einzelner Mann kommt mir entgegen. Schwarze Lederjecke. Ich denke, dass er Russe sein könnte, versinke in meinen Gedanken. Als er neben mir ist, spricht er mich an, und die Worte, die aus seinem Mund quellen, sind russische Worte. Ich stehe verdutzt da, bis ich merke, dass es nur ein russischer Akzent mit einer Frage war. Ich nicke und antworte mit ja.
Samstag, 20. Oktober 2007
Russisches Terzett.
Vor kurzer Zeit bin ich auf drei Bücher gestoßen, die durch eine Begebenheit miteinander verwoben sind. Dabei spreche ich insbesondere von der Wahl oder dem unbewussten Finden des dritten Buches. Aber beginnen wir mit dem Anfang...
Lena Gorelik: Meine weißen Nächte
Es sind erst wenige Wochen seit der Eröffnung des neuen, riesigen [und unbedingt notwendigen] Einkaufszentrums ALEXA unweit des Alexanderplatzes vergangen. Am ersten Tag wurde das Haus so sehr von Schnäppchenjägern belagert und gestürmt, dass es gleich zu einem Sachschaden in Höhe von mehreren Zehntausend Euro kam. Schuld daran war ein Elektronik-Fachmarkt mit 8000 m2 Fläche auf vier Etagen [wohin sollen diese Superlative noch führen?!], der beispielsweise Drucker zu einem Preis von 30 Euro verschleuderte. Jedenfalls konnte man es dann eine Woche später, ohne erdrückt zu werden, wagen, das Gebäude zu betreten. Was soll ich sagen, es ist wie jedes andere Kaufhaus, zusammengewürfelt aus vielen kleinen und wenigen großen Geschäften. Aber genau jenes hat die Welt [oder sagen wir die Stadt] sicherlich gebraucht. Mein Rundgang durch die verschiedenen Etagen fiel verdammt spärlich aus, obwohl ich auch nicht die Absicht hatte, irgendetwas zu kaufen. Immerhin wurde ich doch noch in einer Buchhandlung fündig. Riesige Kisten randgefüllt mit Mängelware Büchern. Und ein einziges zu einem unschlagbaren Preis von 1,50 Euro [wenn sich die Anfahrt damit nicht schon gelohnt hatte] fiel mir nach ausgiebiger Suche in die Hände.
Der Umschlag mit einer bunten Reihe von Matroschkas am Rand und anderen Zeichnungen fiel mir auf. Und kam mir bekannt vor, als hätte ich dieses Buch schon einmal anderswo in der Hand gehabt. Lena Gorelik: Meine weißen Nächte. Als Taschenbuchausgabe. Und als ich den Text auf der Rückseite las, war mir klar: das ist meins.
Lena Gorelik beschreibt in Episoden die Auswanderung ihrer Familie von St. Petersburg nach Deutschland. Immer wieder erfolgen Zeitsprünge vor und zurück und bringen dem Leser schrittweise das Erlebte und die Beweg- und Hintergründe der Familie nahe. Den roten Faden durch das Buch bildet die Beziehung zu ihrem Freund Jan, die aber auf eine harte Probe gestellt wird, als der russische Ex-Freund Ilja auftaucht. Gorelik schildert ihre Erzählungen mit einfachster Sprache, aber so glaubwürdig, dass es mir echte Freude bereitet hat. Ein kurzweiliger, unterhaltsamer Roman.
Michail Jelisarow: Die Nägel
Das obige Buch, die russische Geschichte, gefiel mir so sehr, dass ich mehr von solchen lesen wollte. Ich wußte auch noch, dass ich daheim einiges im Schrank haben müsste und fand von Michail Jelisarow: Die Nägel. Die Geschichte spielt irgendwo in Russland und schildert den Werdegang zweier Jungen, die jeder auf seine Art gehandicapt sind. Beide wurden von ihren Eltern verstoßen und landen als Baby in einem Heim für Behinderte. Einem sitzt ein unbschreiblich häßlicher Buckel auf dem Rücken, weshalb er auf den Namen "Gloster" getauft wird. Der andere hat einen Stempel in der Windel, auf dem "Bachatow" steht und der zu seinem Namen wird. Die Jungen freunden sich an und werden wie Brüder. Mit den Jahren entdeckt Gloster eine Regung an seinem Körper, eine Zuneigung zu Mädchen seines Alters. Er verliebt sich in Nastenka und schläft mit ihr, als er eine sich ihm bietende Möglichkeit schamlos ausnutzt. Nastenka wird schwanger, wird zum Abtreiben gezwungen und stirbt dabei. Aber Gloster liebt sie weiterhin.
Bald darauf soll das Heim geschlossen werden. Die beiden müssen sich einer Prüfung unterziehen, mit der ihr Grad der Behinderung festgestellt werden soll. Aber abgesehen vom zwanghaften Nägelkauen Bachatows und dem Buckel Glosters gab es niemals psychische Erkrankungen bei ihnen. Um aber weiterhin Unterstützungsgeld vom Staat zu bekommen, hecken sie einen Plan aus. Gloster soll als gesund entlassen werden, um sich seiner im Heim entdeckten Vorliebe für Musik, dem Spielen eines Klaviers, widmen zu können. Bachatow hingegen mimt absichtlich den Dummen, um weiterhin die Rente zu kassieren. Der Plan geht auf. Wegen der Schließung des Heims werden sie in die Stadt in ein Wohnheim geschickt, bei dem sie sich melden sollen.
Wie die Geschichte weitergeht, soll der interessierte Leser selbst heraus finden. Es spiegelt jedenfalls ein Stück die Zustände im alten Russland wider. Gewalt. Kriminalität. Abscheu gegenüber Behinderten. Diskreminierung. Gepackt in eine geheimnisvolle Erzählung mit mystischen Elementen. Unbedingt lesenswert.
Fjodor Dostojewski: Weiße Nächte
Das dritte Buch im Bunde ist mir dann kürzlich in einer Buchhandlung förmlich ins Auge gesprungen. Ich war nicht auf der Suche nach etwas bestimmtem, studierte die Regale, ein Fach nach dem anderen, bis der Titel "Weiße Nächte" aus der bunten Menge hervorstach. Fjodor Dostojewski ist der Autor des Buches. Und ich kann zumindest behaupten, zu wissen, dass er ein russischer Schriftsteller ist, wenn ich auch bisher nie etwas von ihm gelesen habe. Ich greife nach dem Buch und lese dessen Buchrücken. Plötzlich taucht der Name Nastenka auf und ich weiß: das ist mein Buch!
Das zuerst genannte Buch "Meine weißen Nächte" spielt natürlich auf Dostojewskis Klassiker "Weiße Nächte" [manchmal auch als "Helle Nächte" bezeichnet, je nach Übersetzung des Originaltitels] an. Dostejewskis Erzählung spielt nämlich in St. Petersburg, eine Liebesgeschichte, ein empfindsamer Roman in vier Nächten und dem abschließenden Morgen. Der Ich-Erzähler verliebt sich in der ersten Nacht unsterblich in ein 17-jähriges Mädchen namens Nastenka. Er ist ein wahrlicher Träumer und sieht sich dazu berufen, dem Mädchen mit Rat beiseite zu stehen, da sie, wie sich bald herausstellt, von schrecklichem Liebeskummer geplagt wird. Nacht für Nacht treffen sie sich wieder, wandeln durch die Straßen, sitzen auf einer Bank, halten einander Händchen und steigern sich endlos in ihre Gefühle hinein.
Das Buch ist so unglaublich gut geschrieben, dass ich dieses Gefühl, das Zittern vor Liebe, tatsächlich spüren konnte. Hoffnung keimt auf und das Ende kommt so, wie es kommen muss. Beim Lesen lässt sich [zumindest wenn man Träumereien und Phantasien glauben schenken und leben kann] eine Leichtigkeit und Glückseligkeit, gepaart mit der Härte der Realität, erfahren, wie es bisher kein anderes Buch, das ich kenne, geschafft hat. Fjodor Dostojewskis "Weiße Nächte" ist zu meinem Lieblingsroman geworden.