Lesekreis.
Ich bin mit der S-Bahn unterwegs, um zu unserem kleinen Lesekreistreffen zu fahren. Lesekreis mag jetzt etwas überzogen klingen, dahinter verbirgt sich nur ein kleiner Kreis von Literaturbegeisterten. Momentan sind wir sechs Personen an der Zahl. Eine angenehme Größe. Wir treffen uns einmal im Monat, meist in unterschiedlichen Kneipen oder Restaurants, diskutieren über das aktuelle Buch und bestimmen dann für das nächste Mal ein neues.
Dieses Mal findet das Treffen aber bei jemandem zu Hause statt. Ein weiter Weg für mich, quer durch die Stadt, von Marzahn bis nach Steglitz. Ich habe mehr als eine Stunde eingeplant und bin überrascht, dass ich mit Erreichen des S-Bahnhofs Friedrichstraße noch viel zu viel Zeit habe. Wie ich es mir in solchem Fall angewöhnt habe, schlendere ich kurzweilig zum Buch- und Zeitungsladen. Vor dem Geschäft stehen wie immer die Tische, auf denen man einige reduzierte Exemplare finden kann. Da ich erst vor kurzem hier war, erkenne ich schnell, dass es nichts zu holen gibt. Nur ein flüchtiger Blick auf die Buchrücken. Und dann blitzt doch etwas auf. Ein bekannter Name. Eine neuerliche Entdeckung. Dostojewski.
Das Buch trägt einen weinroten Umschlag, auf der Vorderseite ein nicht entzifferbares Gekritzel in goldener Schrift. Auf dem Rücken der Titel "Aufzeichnungen aus einem Totenhaus". Preis 3,50 EUR. Ein dickes Buch. Über 800 Seiten. Ich hadere einen Moment, kann mich nicht für oder wider entscheiden. Der Titel klingt mir ungreifbar, zu langweilig, zu unlebendig. Beim Durchblättern entdecke ich aber, dass nicht nur diese Aufzeichnungen, sondern noch drei weitere Erzählungen oder Kurzromane enthalten sind. Und neugierige Blicke eines hochgezogenen Mannes lugen über meine Schulter auf den Buchtisch. Ich bilde mir ein, exakt auf jene Stelle, an der soeben noch mein Dostojewski stand.
Mit dem weinroten Buch unterm Arm sitze ich nun in der S1 und setze die Fahrt nach Steglitz fort. Ich besitze keine Tüte, auch keinen Rucksack, in den ich es hätte verstauen können, und meine Jackentaschen sind für das dicke Buch zu klein. So halte ich es in meinen Händen, mal in der linken, mal in beiden, lege es auf den Schoß, versuche zu widerstehen, sofort mit dem Lesen zu beginnen. Kann es aber letztlich doch nicht unterlassen, und beginne aus Interesse mit dem enthaltenen Lebenslauf Dostojewskis am Ende des Buches. Zwischendurch blicke ich immer wieder auf, sehe mich um, ob mich jemand beobachtet, gerade so, als hielte ich etwas Verbotenes in der Hand. Daumen und Zeigefinger liegen unter dem Rücken, verdecken den Titel. Beim Aussteigen schließe ich das Buch, fahre mit den Fingern über den Umschlag meines kleinen Schatzes, stecke es mir unter den Arm, und bin stolz, diesen überraschenden Fund gemacht zu haben.
Ray Bradbury: Fahrenheit 451
Zum Treffen gibt es selbstgemachte vegetarische Pizza und rote Grütze mit Sahne und Eis. Beides äußerst vortrefflich und dem Gaumen schmeichelnd, bevor wir uns den literarischen Freuden zuwenden.
Aber ich muss ehrlich zugeben, dass unser letztes ausgewähltes Werk von Ray Bradbury mit "Fahrenheit 451" nicht gerade ein Leckerbissen war. Zweien gefiel das Buch recht gut bis zuweilen hervorragend, aber den anderen Vieren, mich eingeschlossen, eher mäßig bis schlecht. Und in diesem Fall kann es auch nicht an einer schlechten deutschen Übersetzung gelegen haben, da einige von uns den Roman im Original gelesen hatten.
Für mich beginnt das Werk ziemlich holprig mit seitenweise aneinander geklatschten Metaphern und herbeigezogenen Vergleichen, als wollte der Autor zeigen, was er bildlich auf dem Kerbholz hätte. In meinen Augen jedoch völlig überladen, so dass ich irgendwann die Nase voll hatte von den nicht enden wollenden Aufzählungen mit x aneinander gereihten Metaphern zu ein und derselben Bebilderung. [etwa der Form: Die Nacht war dunkel, wie die Höhle des Löwen ohne Licht, wie die Sonne ohne Feuer, wie das Ende eines ewig währenden Abschieds, wie... wie... wie...]
Die Geschichte an sich hätte ganz interessant werden können, ist aber oft sehr bruchstückhaft, Handelsstränge enden im Nichts, werden nicht weiter ausgeführt. Dabei ist die Idee ganz interessant. Eine Zukunftswelt, in der jeglicher Besitz und Konsum von Büchern verboten ist, in der die Feuerwehr nicht mehr die Aufgabe hat, Brände zu löschen, sondern ganz im Gegenteil, Brände zu legen, um gefundene Bücher samt Haus und Habe des Besitzers zu verbrennen.
Auf jeden Fall muss man zugestehen, dass die geschilderte Zukunftsvision aus den 50er Jahren heute im Punkt der Medien und riesigen TV-Wände erschreckend nahe ist. Jedes Haus ist bestenfalls mit einem Raum, der komplett aus vier Medienwänden besteht, ausgestattet. Auf den Wänden flimmern unzählige Programme, genannt die "Familie", selbstverständlich interaktiv, auf jeden Besitzer persönlich zugeschnitten. Die Tätigkeit der in solchen Häusern lebenden Menschen scheint dann nur darin zu bestehen, in diesem Raum auszuharren, und über die Wände, völlig sozial abgeschottet, mit dem Rest der Welt, oder dem davon übrigen, zu kommunizieren. Mit dem offenbaren Ergebnis der allmählichen Verdummung.
Zusammengefasst könnte dieses Buch für Fans der Science-Fiction-Literatur durchaus lohnenswert sein. Für mich persönlich war es einfach zu platt, zu holprig, zu unrealistisch.
Zum Ende des Lesekreistreffens legen wir die neue Lektüre fest. Ich bringe meinen Vorschlag von Dostojeswskis "Weiße Nächte" ein, der sogar einspruchsfrei angenommen wird. Zuvor lesen wir aber noch "Das fliehende Pferd", weil wir gerade den Film dazu im Kino gesehen hatten.
Auf dem Rückweg fahren wir zu viert gemeinsam mit der U-Bahn und dann weiter auf dem Ring nach Ostkreuz. Kaum nehme ich in der U-Bahn Platz, steht jemand aus dem Nebenabteil auf und kommt auf mich zu. Ich sehe das Gesicht, weiß sofort, dass ich ihn kenne, aber erst nach einigen Augenblicken kann ich es zuordnen. Ein Mitreisender der Moskaufahrt vom vergangenen März. Er erzählt, dass er gerade von der Uni kommt. Und dass es ihn nächstes Jahr im Sommer wieder nach Osten zieht. Dann in die Ukraine als Aufsichtsperson einer Jugendreisegruppe. In diesem Moment muss ich leider die Bahn mit zwei anderen aus dem Lesekreis verlassen und auf die Ringbahn umsteigen.
Ab Ostkreuz lege ich die letzten vier Stationen allein zurück. Ich eile durch den Fußgängertunnel in Springpfuhl. Ein einzelner Mann kommt mir entgegen. Schwarze Lederjecke. Ich denke, dass er Russe sein könnte, versinke in meinen Gedanken. Als er neben mir ist, spricht er mich an, und die Worte, die aus seinem Mund quellen, sind russische Worte. Ich stehe verdutzt da, bis ich merke, dass es nur ein russischer Akzent mit einer Frage war. Ich nicke und antworte mit ja.